Sonntag, 14. Februar 2016


Es ist kalt draußen, der schneidende Winterwind fegt durch die Straßen, wirbelt weggeworfene Zeitungen fort, lässt vereinzelte Schneeflocken einen wilden Tanz aufführen. Auf einer vereisten Bank liegt ein Obdachloser, wickelt sich in seine dünne Jacke, versucht zu schlafen. Doch die Kälte hindert ihn daran, flüstert ihm immer wieder mit eisiger Stimme ins Ohr, lässt seine Glieder ertauben, seine Lippen blau werden. Im nächsten Baum kuscheln sich Wintervögel aneinander, das Fell aufgeplustert, den Schnabel in den Flügeln verborgen. In der schwarzen Dunkelheit werden die Schneeflocken angestrahlt wie glitzernde Sterne.
  Die Sterne waren es, die Kathrin beobachtete. Die Sterne am Himmel, und die Sterne in der Luft. Sie beobachtete den Obdachlosen, dem sie manchmal etwas zu Essen gab, und überlegte, ihm eine Decke zu bringen. Vielleicht. Vermutlich aber nicht.
  Hier in ihrer Wohnung war es warm. Die Heizung lief schon den ganzen Winter lang, und die Luft war verbraucht und trocken. Es war Zeit für den Frühling. Eine Träne rann Kathrin über die Wange. Hinter ihr wartete Chris auf eine Antwort, doch sie beobachtete weiter die Sterne und versuchte, an gar nichts zu denken.
  „Katy.“ Die Stimme war leise, fast drohend. „Du schuldest mir eine Antwort.“

  Sie drehte sich herum, langsam, blitzte ihn wütend an. „Ich schulde dir gar nichts.“
  Sein Mundwinkel zuckte.  „Wir sind verheiratet. Du schuldest mir die Treue.“
  „Das sagst gerade du? Ich bin es nicht, die ihren Ehepartner betrogen hat.“
  „Katy.“ Wieder dieses drohende Machogehabe.
  „So ist mein Name“, erwiderte sie aufgebracht. „Und bald wird es wieder Morrison sein, nicht Cupping.“
  „Es ist schon zwei Monate her!“ Chris presste den Kiefer zusammen, in seinen Hosentaschen ballten sich die Hände zu Fäusten. Kathrin wusste, sie würde nun vorsichtig sein müssen.
  Ein Liedtext kam ihr in den Sinn. Sie schloss die Augen und drehte sich wieder zum Fenster. Mit leiser, rauer Stimme begann sie, P!nks „Just give me a reason“ zu singen.
  "Right from the start
  You were a thief you stole my heart
  And I your willing victim
  I let you see the parts of me
  That weren't all that pretty.”
  Eine weitere Träne verließ ihren Platz, machte sich auf den weiten Weg ihre Wange hinunter. Das Licht der Straßenlaterne spiegelte sich in ihr, und für einen Moment glitzerte sie heller als die Schneeflocken vor dem Fenster, in der eisigen Kälte.
  Sie wartete darauf, jeden Moment das wütende Schnauben ihres Ehemannes zu hören, doch hinter ihr blieb es still. Die Stille war bedrückend, traurig.
  And with every touch you fixed them.
  So ging das Lied weiter, doch Kathrin wagte es nicht, diesen Part zu singen. Und mit jeder Berührung hast du sie beseitigt, hieß es in ihm. All die hässlichen Seiten in ihr. Chris hatte ihr zugehört, als sie von ihren Problemen geredet hatte, und mit einem süßen Kuss hatte er sie beseitigt, hatte sie fortgewischt. Doch das war vor fünf Jahren gewesen, und Chris hatte sich verändert.
  Sie drehte sich herum, öffnete die Augen. Beunruhigt über die Stille. Vielleicht war er fort, hatte sich hinausgeschlichen.
  Er war noch da, stand an genau derselben Stelle wie zuvor, einen verlorenen Ausdruck im Gesicht. Für einen Moment sah er aus wie der Mann, den Kathrin geheiratet hatte. Der Moment blieb, wurde länger. Chris schluckte, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er begann zu singen, ein männlicher, tiefer Tenor. Töne, die Kathrin noch nie von ihrem Mann gehört hatte.
  Now you've been talking in your sleep
  Things you never say to me
  Tell me that you've had enough
  Of our love, our love.”
  Die Worte machten sie wütend. „Nicht ich habe genug von unserer Liebe“, zischte sie. Es verletzte sie, dass Chris ihr das mithilfe dieses Liedes vorwarf.
  „Du hast die Scheidung eingereicht, nicht ich.“ Seine Stimme war emotionslos.
  Wieder kamen ihr heiße Tränen hoch. Diesmal war sie es, die ihre Fäuste ballte. „Du hast mich betrogen, Chris. Du hast mit einer anderen Frau geschlafen. Und du wirfst es mir allen Ernstes vor, dass ich die Scheidung möchte?“
  Er blickte zu Boden. Sang wieder.
  Just give me a reason
  Just a little bit's enough
  Just a second we're not broken just bent
  And we can learn to love again.”
  Eine Träne tropfte von seiner Nasespitze und landete mit einem dumpfen, leisen Geräusch auf dem Wohnzimmerteppich. Noch immer war er der Chris, den sie geheiratet hatte.
  „Einen Grund möchtest du? Ich gebe dir tausend Gründe. Bediene dich nicht mehr dieses elenden Liedes, der Text passt nicht mehr zu unserer Unterhaltung. Melde dich vielleicht in zehn Jahren wieder.“
  Sie ging an ihm vorbei zu ihren gepackten Koffern an der Tür. Er, widerstandslos, still. Nicht mehr der neue Chris, aber auch nicht der alte. Ein ganz neuer.

  Sie wirft noch einen letzten Blick über die Schulter auf seinen gesenkten Kopf. Weitere Tränen tropfen auf den Teppich. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in ihnen. Noch immer hatte Kathrin dieses Bild vor Augen, als sie auf die Straße trat, in ihren dicken Mantel gehüllt, und mit ihren Koffern an dem Obdachlosen vorbeilief.

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